Diese Informationen sind vor mehr als einem Jahr veröffentlicht worden und beziehen sich auf ein vergangenes Semester.

Gäste im Audimax. Foto: Gerhard Mokesch

Es war ein Fest. Das Abendgymnasium Wien wurde vor 100 Jahren gegründet. Ende November haben all jene gemeinsam gefeiert, die der Idee der ehemaligen „Arbeitermittelschule“ nahe stehen. Mit dabei auch Bürgermeister Ludwig.

Ein Bericht von Jonas Schneider.

#jubiläum #bildung #erwachsenwerden #100jahre #endlichmatura


Zeitreise durch die Schulgeschichte

Das Abendgymnasium Wien besteht nun seit 100 Jahren. Was sich hinter der runden Zahl verbirgt, wird am 27. November 2023 deutlich, als in der Brünner Straße eine dreihundertköpfige Festgemeinde mit Helen Lanzer-Sillén in Stockholm telefoniert.

Helen Lanzer-Sillén, heute 92, ist als Kind mit ihrer Mutter vor den Nationalsozialisten aus Wien nach Schweden geflohen. Weil es mit dem Videocall doch nicht klappt, hält Informatik-Lehrer Wenzel das Handy kurzerhand an das Saalmikrofon. „Na, dann beginn’ ich halt“, sagt Lanzer-Sillén und erzählt in makellosem Wienerisch, wie ihre Mutter, Wanda Lanzer, 1922 auf die Idee kam, Arbeiter:innen auf die Matura vorzubereiten. „Ist hier ein Unglück passiert?“, habe die Mutter gefragt, als sie die Menschenmenge auf der Straße vor der Schule gesehen habe, wo sie auch ein kleines Studentenzimmer bezogen hatte. Sie habe nicht glauben können, dass es so viele Interessenten für ihren Abendkurs gab. Doch die gab es. Die Mutter habe den Wissensdurst dieser Menschen, für die eine höhere Bildung zuvor nur ein Traum habe sein können, ganz richtig erspürt.

Ehrengäste mit Verbindung zur “Idee”

Emin Ocakoglu (Türkischlehrer) und Bürgermeister Michael Ludwig. Foto: Lothar Bodingbauer

100 Jahre später und eine halbe Stunde vor Beginn der Jubiläumsfeier halten in den Gängen des ehemaligen Betriebswirtschaftszentrums der Universität Wien, deren Gebäude das Abendgymnasium 2014 übernommen hat, 80 Lehrer:innen Ausschau nach ankommenden Gästen.

Bürgermeister Michael Ludwig hat sich angekündigt. Die ersten ehemaligen Kolleg:innen und Wegbegleiter:innen werden begrüßt: Wanda Lanzers Enkel Michael Lanzer-Sillén, die ehemaligen Direktoren Dettlef Schaffer, Oskar Achs, Klaus Brandl, Bezirksvorsteher Georg Papai, der ehemalige Landesschulinspektor Franz Tranninger, Schulqualitätsmanager Werner Bajlicz, die Direktor:innen der Abendgymnasien Innsbruck: Annegret Scheuringer (Innsbruck), Marie-Luise Walser (Linz): Anneliese Teuermann (Klagenfurt) Roland Bieber (Salzburg), Jugendbezirksrat in Floridsdorf Florian Stich, Bezirksrat Bernhard Herzog, die ehemalige Leiterin der Abendgymnasien Österreich Annemarie Lukas, Franz Lackinger, langjähriger Obmann der Arbeitsgemeinschaft Zweiter Bildungsweg, sowie deren Vorstände Gerhard Mokesch und Heinz Buchmüller und zahlreiche Absolvent:innen und Freund:innen der Schule. – Die Stimmung sei gut, hört man, der Beruf halte jung.

Wachsender Zuspruch

Der „Mittelschulkurs sozialistischer Arbeiter“ von damals, in dem eine Handvoll Lehrkräfte im Nebenberuf über die ersten 17 Jahre 230 Werktätigte zur Matura führte, ist stetig gewachsen. Aktuell sind über 2000 Studierende aus 64 Geburtsländern mit teilweise kurzfristigem Migrationshintergrund inskribiert und erhalten eine kostenlose Ausbildung. Ein Ort gelebter Integration, wie es Direktorin Lisa Albrecht später ausdrückt, auf den alle Beteiligten sehr stolz sind.

Breite Unterstützung nach dem Krieg

Diese Entwicklung war nach der Schließung der Schule durch die Nationalsozialisten nur möglich, weil sich Arbeiterkammer und Österreichischer Gewerkschaftsbund 1945 energisch für die Wiedereröffnung einsetzten. Die Ausstellung über die Geschichte der Schule, die von einer Fachgruppe zusammengestellt und im Zuge des Jubiläums eröffnet wird, zitiert Hörer:innen des ersten Nachkriegsjahrgangs: „Oft saßen wir eingeengt in einem kleinen Raum, den wir nur mühsam heizen konnten. Aber gerade diese gemeinsame Not machte Lehrer und Hörer zu einer Gemeinschaft […]. Wir halfen denen, die unter der Last zusammenzubrechen drohten […] Ja, wir holten Hörer, die das Studium aufgeben wollten, aus ihren Wohnungen wieder zur Stätte der gemeinsamen Arbeit.“ Die zunächst private, dann staatliche „Arbeitermittelschule“ entstand, aus der später das heutige „Bundesgymnasium und Bundesrealgymnasium für Berufstätige“, kurz „Abendgymnasium“, hervorging.

Unterstützung der Arbeiterkammer

Kurt Kremzar, AK Wien. Foto: Gerhard Mokesch

Im zum Festsaal umfunktionierten Audimax der heutigen Schule leiten Kurt Kremzar als Obmann der Arbeitsgemeinschaft Zweiter Bildungsweg (AZB) und Direktorin Albrecht durch den Festakt. Michael Bürkle, ehemaliger Direktor des Abendgymnasiums Innsbruck, gekleidet im T-Shirt der Arbeitsgemeinschaft Abendgymnasien Wien, lobt die vielen Impulse, die von Wien ausgegangen seien, etwa zu einer Lernplattform, als es das Wort „Lernplattformen“ noch gar nicht gab.

Arbeiterkammer Präsidentin i. V. Dominik Pezenka berichtet von einer Praktikantin, deren Mutter vor einigen Jahren schwer erkrankt sei. Damals noch an einer HTL inskribiert, habe sie die Mutter pflegen, alle Behördengänge übernehmen und sich um die Geschwister kümmern müssen. Das Abendgymnasium habe ihr eine zweite Chance gegeben.

Faire Chancen durch Bildung

Dominik Pezenka, AK Wien. Foto: Gerhard Mokesch

Pezenka spricht damit den Kern dessen an, was aus gesellschaftlicher Perspektive die Bedeutung des Abendgymnasiums ausmacht. Die wichtige Erkenntnis – vor 100 Jahren wie heute – lautet: Die Menschen in Österreich haben nicht alle die gleichen Startbedingungen ins Leben. Sie starten unter unterschiedlichen sozialen, ökonomischen und familiären Bedingungen. Diese Unterschiede durch einfach zugängliche Bildungsangebote so gut wie möglich auszugleichen, das ist die Idee der Bildungsgerechtigkeit. Denn Bildung, so Pezenka – der sich darüber bewusst ist, Eulen nach Athen zu tragen – führe zu Chancengleichheit und sei nicht zuletzt das Fundament der Demokratie.

Rede des Bürgermeisters

Michael Ludwig, Bürgermeister von Wien. Foto: Gerhard Mokesch

So sieht es auch Bürgermeister Ludwig. Das Abendgymnasium hält er für eine der wichtigsten Institutionen der Arbeiterbildung und würdigt Gründerin Wanda Lanzer in detailreicher Darstellung ihres Lebens als „besondere Frau“ und „herausragende Bildungspolitikerin“. Heute ergebe sich die Notwendigkeit für weiterführende Schulen des zweiten Bildungswegs aus drei Zielgruppen: Menschen, die ihren primären Schulabschluss – aus welchen Gründen auch immer – nicht hätten abschließen können. Berufstätige, denen eine AHS für Berufstätige wie das Abendgymnasium neue „Lebenschancen“ eröffne. Sowie Menschen, die neu nach Österreich kämen, und über die Angebote des zweiten Bildungswegs zu einem weiterführenden Abschluss gelangen könnten. Er hebt hervor: Gerade weil konservative Kräfte ein Interesse daran hätten, die Frage der „Verteilung der Lebensschancen“ zu kontrollieren und zu verhindern, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen Macht erlangten, sei es großartig, nun das 100-jährige Jubiläum des Abendgymnasiums gemeinsam zu begehen.

99 Jahre alt, Absolvent Foto: Gerhard Mokesch

Wir sind nicht alleine

Begleitet wird die Feier von einer Band, Lehrer der Schule sind beteiligt. Ein Dialekt-Cover von What’s Up der 4 Non Blondes lädt erfolgreich zum Mitsingen ein („Wir san ned allein“), als jemand Direktorin Albrecht etwas ins Ohr flüstert. Ein 99-jähriger Absolvent der Schule hat den Weg zur Feier gefunden. Er wird am Ende des Songs (Jubel) herzlich begrüßt (Jubel).

Bildung für alle

Die Absolventinnen und Absolventinnen sind für Albrecht diejenigen, die der Arbeit an der Schule eine Bedeutung geben. Jedes Maturazeugnis, das überreicht werde, sei ihr ein riesiges Fest und eine große Freude. Damals wie heute verändere die Abendschule das Leben von Menschen, die es nicht im Lebensplan gehabt hätten, die Matura zu machen.

Persönliches Feedback einer Absolventin

Leokardia Grollmus, Absolventin. Foto: Lothar Bodingbauer

Ein Beispiel dafür ist Leokardia Grollmus, die 2018 am Abendgymnasium abgeschlossen hat und stellvertretend für die Absolvent:innen spricht. Wie Wanda Lanzer vor 100 Jahren sieht auch sie im „Durst nach Wissen“ dasjenige, was Berufstätige an die Abendschule bringe. Hinzu komme die Lust darauf, die Welt zu erfahren und die Gesellschaft zu verändern. Aufgewachsen in Tschechien und Polen als Tochter von Arbeiter:innen war Grollmus gerade zwei Jahre in Österreich, als sie sich am Abendgymnasium inskribierte, und arbeitete 40 Wochenstunden als Pflegeassistentin, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Eine Unterstützung wie am Abendgymnasium habe sie auf ihrem Bildungsweg zuvor oder danach nie wieder erfahren. „Das Maturazeugnis hat Türen geöffnet“, so Grollmus, „von denen ich nicht gewusst habe, dass sie sich für mich je eröffnen werden.“ Nach einem Studienabschluss in Sozialer Arbeit folge derzeit ein Studium der Rechtswissenschaft.

Foto: Gerhard Mokesch

Gemeinsame Arbeit

Am Ende bedankt sich Direktorin Albrecht beim ganzen Team des Abendgymnasiums, insbesondere bei Frau Martina Fischl-Radakovits, der unermüdlichen Leiterin des Organisationsteams der Feierlichkeiten, außerdem bei den Mitgestaltenden Klaus Brandl und Kurt Kremzar. Letzterer weist auf die außergewöhnliche Frauenpower in Gestalt von Albrecht und Fischl-Radakovits hin, die in der Tradition Wanda Lanzers stehe.

Zuletzt öffnet sich die Tür für eine einfahrende Torte, die dem Festakt das Sahnehäubchen aufsetzt. Die Band spielt „Happy Birthday“.


Jonas Schneider unterrichtet Deutsch und Ethik am Abendgymnasium Wien. Die Ausstellung “100 Jahre Abendgymnasium Wien” kann zu den Öffnungszeiten der Schule in der Aula jederzeit besichtigt werden.


Diese Informationen sind vor mehr als einem Jahr veröffentlicht worden und beziehen sich auf ein vergangenes Semester.







 ✑ Beitrag von …